Der Pianist Krystian Zimerman stellt bei seinem Schubert-Abend in Basel die letzten Fragen. Sie kommen wie aus dem Handgelenk.
Krystian Zimerman kann man nur selten im Konzert hören, dabei gehört er zu den meist bewunderten Pianisten unserer Zeit. Mit kurzfristigen Konzertausfällen muss man bei ihm rechnen, auch dem Klavierabend in Basel ging erst einmal eine Absage voraus. Über die Gründe dafür konnte man nur spekulieren. Dabei erlebt man einen Ausnahmemusiker, wenn er denn auftritt.
Nun braucht dieser großartige Pianist eine Anlaufphase, entwickelt seine musikalisch-künstlerische Überzeugungskraft erst im Laufe des Abends. Franz Schuberts "Sieben leichte Variationen G-Dur" geht Zimerman jedenfalls recht unterkühlt an, lapidar - und technisch ein bisschen schlampig. Will er sich von diesem Opus distanzieren, das sein Lehrer Andrzej Jasinski Schubert zuschrieb, während andere Fachleute bis heute zweifeln?
Die Antwort kommt unsentimental und mit einer naiven Selbstverständlichkeit, die kaum natürlich sein kann. Zimerman aber kreiert einen so authentischen, aus sich selbst heraus überzeugenden Schubertschen Ton, dass alle Zweifel über die Autorschaft des Werkes mit einem Mal vom Tisch sind. Was die Musikwissenschaft nicht leisten kann und darf, das kann und muss die Musik: sich auf eine Seite schlagen, ohne Rücksicht auf Bedenken. Und das kann Zimerman mit fast bescheidener Beiläufigkeit. Aber er hat eine musikalische Überzeugung, ein Credo, das in jedem Ton spürbar ist. Selbst dann, wenn er etwa Schuberts A-Dur-Sonate D 859 recht flott angeht und sich um verlorene Töne nicht schert.
Allein, wie er eine Phrase plötzlich abbremst, in welch exakt gemessenem Rahmen er das Metrum verschiebt, ohne es in den Grundfesten zu gefährden, zeigt in einem Sekundenbruchteil, wie sicher sich Zimerman seiner Sache sein kann. Wie frei er mit Konzepten jongliert, die Unterstimmen selbst im überraschenden kontrapunktischen Durchführungsteil erst einmal als indifferentes, bedrohliches Grummeln verstanden haben will, bevor er der eigentlichen Basslinie zu ihrer Bedeutung als harmonischer Stütze und stabilisierendem Moment verhilft.
Das kommt alles so aus dem Handgelenk, da bahnt sich nichts an, da werden keine didaktischen Vorbereitungen getroffen. Und wenn dem Pianisten danach ist, dann bleibt ein Binnenschluss auch mal etwas länger stehen, als habe der Komponist hier eine kleine Ruhepause eingeschoben. Im Musiksaal des Basler Stadtcasinos führen diese Pausen allerdings zu unschönen Begleiterscheinungen, übersteuerte Hörgeräte scheinen sich mit der Lautsprecheranlage im Saal zu verbünden, es pfeift und dudelt, dass man bangen muss, Zimerman werde abbrechen.
Es wäre nicht das erste Mal, er hat schon unerlaubtes Mitfilmen durch Abbruch unterbunden oder gegen die Stationierung von US-Raketen auf polnischem Boden protestiert. Man hat ihm das als Racheakt ausgelegt für die Beschlagnahme und Zerstörung seines Steinway-Flügels bei seiner US-Einreise nach dem elften September. Eine ungeheuerliche Barbarei.
Zimerman wählt sein Instrument genau aus und lässt es zusätzlich nach seinen Klangvorstellungen präparieren. Er weiß, dass es auf jede Kleinigkeit ankommt. Auf die Frage nach den wichtigsten Einflüssen auf seine Kunst nannte er neben den Dirigenten Kirill Kondraschin und Carlo Zecchi den Theatermann Tadeusz Kantor. Er habe ihm gezeigt, was Kommunikation ist, wie man mit einem Ensemble umgeht; vielleicht auch, wie man das Publikum als Ensemble miteinbezieht.
Von dort kommen gerade wieder elektroakustische Querschläger. Sind die kleinen Grobheiten, die sich Zimerman stellenweise leistet, das Raunzen im Diskant und das Bassrumpeln, einer situativen Irritation geschuldet? Oder hat es damit zu tun, dass Zimerman jeden Anflug romantischen Zugriffs meidet, dass die Überwältigungsangst immer mitspielt?
Er wird jetzt langsamer, schreitet jeden nur denkbaren Nebenweg der A-Dur-Sonate ab und jede Abzweigung vom Hauptstrom der Durchführung. Nur ja nicht dem breiten Fluss des Schubertschen Gedankenstroms folgen. Stattdessen Gegensätze hochhalten, verzweifelt wie ein Kind und ebenso schnell wieder versöhnt. Anklänge an die B-Dur-Sonate leuchten auf, aber mit dem vermeintlich lieblichen, dabei im Kern so deprimierten Schubert kann Zimerman jetzt nichts anfangen. Die Bassschläge im Scherzo kommen noch härter als ohnehin komponiert, das Trio läuft in mehreren Schichten gleichzeitig ab, der Zuckerguss in den Oberstimmen muss weg, und wieder peitscht ein Stakkato-Akkord dazwischen. Dass nur ja keine Gemütlichkeit aufkommt! Nicht einmal im beinahe versöhnlichen Schlussrondo.
Die exzentrischen Durchführungsabschnitte dimmt Zimerman erst einmal herunter, fährt dann mit umso größerem dramatischen Furor in den Klangverlauf. So, wie man das sonst nur für Beethoven als selbstverständlich erachtet. Da wird verdichtet, da werden Notenwerte verknappt, die halben Noten der Binnenschlüsse hält er jetzt nicht mehr aus. Es klingt wirklich so, als halte er sie nicht mehr aus.
Die Musik ist immer schon einen Schritt weiter
Dabei kommt ihm Schubert zu Hilfe und verkürzt die Phrasen, schneidet sie einfach ab, spielt Reise nach Jerusalem - mit Angstlöchern statt Pausen. Das steht so in den Noten, und im Idealfall, der an diesem Abend öfter eintritt, spielen sich die Noten selber, sie wachsen aus der Partitur heraus, verbünden sich zu einem tragikomischen Tontheater - und manchmal auch zu großer Schönheit. Das können wirklich nicht viele Pianisten: Aus dem Beginn der B-Dur-Sonate, die sich Schubert in seinen letzten Lebenswochen noch abgerungen hat, aus diesem großen düsteren und schließlich gleißend jenseitigen Mysterium, das so bleischwer und lebensmüde einsetzt, einen legeren Optimismus heraushören. Das Seitenthema perlt und glitzert, als wäre nichts, Zimerman spielt es als eine lyrische Selbstbefreiung und Lebensüberwindung, die von einem Basstriller jäh beendet wird.
Die Musik scheint immer schon einen Schritt weiter, und im zweiten Satz tritt sie dann ganz heraus aus der Welt, verliert sich in einem kosmisch geweiteten Andante sostenuto, einem stehenden Klangfluss, angesichts dessen Zimerman schon wieder Angst bekommt, hineingezogen zu werden. Zimerman spielt die Bedrängung, geht dabei zügiger zu Werke als etwa Vladimir Horowitz, Valery Afanassiev oder Daniil Trifonov. Dennoch sind es ähnliche Erschütterungen und Reflexionen, die hier aufblitzen. Schließlich folgt das Finale: Schuberts Unbehaustheit nicht nur als Lebensgefühl, sondern als Daseins-Konzept. Beängstigend logisch.
22. Juni 2015, 19:02 Uhr
Von Helmut Mauró
Source: www.sueddeutsche.de